„Unerfüllter Kinderwunsch – gesellschaftliche und gesundheitliche Aspekte“ Bayerischer Landesfrauenrat
Der Bayerische Landesfrauenrat hat hier eine Stellungnahme erarbeitet, die von den angesprochenen Institutionen sehr genau gelesen werden sollte. Schon vor einigen Jahren hatten der DEf bei einer Befragung von jungen Mädchen auf einem Evangelischen Kirchentag festgestellt, dass sich gerade junge Frauen ein Leben mit Familie, mit mindestens 2 Kindern wünschen. Dieser Lebensplan bleibt dann irgendwo auf der Strecke, sodass statistisch nur 1,39 Kinder pro Frau in Deutschland geboren werden. Dies hat die verschiedensten Ursachen, von mangelnder Vereinbarkeit von Familie und Beruf, später Partnerwahl oder auch gesundheitliche Gründe. Gerade ein unerwünschter Kinderwunsch kann zu vielfältigen gesundheitlichen Folgen führen, sowohl physischer als auch psychischer Art. Die Unwissenheit junger Menschen über ihren Körper und seine Funktionen ist immens. Andererseits ist der Glauben an die Reproduktionsmedizin groß. Gerade hier ist Aufklärung durch die Ärzte dringend notwendig, denn die Chancen durch künstliche Befruchtung schwanger zu werden sind immer noch gering und die gesundheitlichen Folgen der Hormontherapie, die dafür notwendig ist, dürfen dabei nicht verschwiegen werden.
Daher begrüßt der DEF Landesverband Bayern diese Stellungnahme des Bayerischen Landesfrauenrates.
Inge Gehlert
Landesvorsitzende
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Die Stellungnahme des Ausschusses Gesundheitspolitik des Landesfrauenrates Bayern
„Unerfüllter Kinderwunsch – gesellschaftliche und gesundheitliche Aspekte“
Stellungnahme des Fachausschusses Gesundheitspolitik
A. Aktuelle Sachlage
In Deutschland besteht eine im internationalen Vergleich sehr hohe Kinderlosigkeit von
Frauen. Verglichen mit einigen anderen EU-Ländern ist Deutschland das Land mit dem
größten Anteil kinderloser Frauen (22 Prozent)1. Die Kinderlosenquote (Anteil der Frauen
ohne Kind) ist im Laufe der vergangenen Jahrzehnte kontinuierlich angestiegen und verharrt
aktuell auf hohem Niveau.
Als endgültig, dauerhaft oder lebenslang kinderlos wird die Kinderlosigkeit statistisch ab dem
Alter von 50 Jahren betrachtet. Aber auch für die 40- bis 44-jährigen Frauen ändert sich die
Quote kaum noch. 2012 lag die Kinderlosenquote der 40- bis 44-jährigen Frauen bezogen
auf die Jahrgänge 1968 bis 1972 beispielsweise bei 22 Prozent2.
Unterschiede bei der Kinderlosenquote bestehen innerhalb Deutschlands sowohl in
regionaler Hinsicht als auch im Hinblick auf die Ausbildung. So liegt die Kinderlosenquote
westdeutscher Frauen deutlich über der von Frauen aus den neuen Bundesländern. Ebenso
sind Frauen mit akademischer Ausbildung in deutlich höherem Maße endgültig kinderlos als
beruflich geringer qualifizierte Frauen.
Dabei bleiben Frauen nur zu einem bestimmten Anteil freiwillig kinderlos. So sind von allen
kinderlosen Frauen und Männern im Alter zwischen 20 und 50 Jahren 25 Prozent ungewollt
kinderlos. 75 Prozent sind gewollt kinderlos oder wollen zumindest momentan kein Kind3.
Eine endgültige Kinderlosigkeit bildet damit vorhergehende Entwicklungen ab.
Ungewollte Kinderlosigkeit bzw. der unerfüllte Kinderwunsch wird heutzutage überwiegend
mit dem Befund oder der Vermutung von Sterilität4 bzw. Infertilität5 aufgrund biologischer
Ursachen, gesundheitlicher Probleme und Prädispositionen erklärt und diskutiert. In gleicher
Weise erscheint es aber sinnvoll, den unerfüllten Kinderwunsch auch aus der Lebenslaufperspektive
heraus zu betrachten und in einen Kontext mit Partnerschaft, Erwerbssituation,
Mobilität, Lebensstil, Alter, Lebensphase, Milieu und soziales Netzwerk zu stellen.
Die Gesetzliche Krankenversicherung übernimmt aktuell die Hälfte der Behandlungskosten
für maximal drei in Folge geplante Behandlungszyklen einer Kinderwunschbehandlung durch
künstliche Befruchtung, wenn die Versicherten miteinander verheiratet sind und das Alter
der Frau zwischen 25 und 40 liegt, das Alter des Mannes zwischen 25 und 50 (vgl. § 27 a
SGB V).
1 Robert Koch Institut/Statistisches Bundesamt, Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 20: Ungewollte
Kinderlosigkeit, Berlin 2004
2 Statistisches Bundesamt, Geburtentrends und Familiensituation in Deutschland, 2013
3 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kinderlose Frauen und Männer, Ungewollte oder gewollte Kinderlosigkeit im Lebensverlauf und Nutzung von Unterstützungsangeboten, 2014
4 Sterilität bezeichnet das Unvermögen der Frau, ein Kind zu empfangen. Eine Sterilität liegt dabei vor, wenn es bei einem Paar innerhalb eines Jahres trotz ungeschütztem Geschlechtsverkehr nicht zur Schwangerschaft kommt.
5 Von Infertilität wird dagegen gesprochen, wenn die Frau zwar empfangen, das Kind aber nicht austragen kann – die Schwangerschaft vorzeitig endet, etwa durch Fehlgeburten. Heute haben 10 Prozent der 30-Jährigen Frauen eine Infertilität.
Bis 2003 haben die Krankenkassen vier Versuche einer künstlichen Befruchtung komplett
erstattet. In Folge der Verschärfung der Kostenübernahmeregelungen durch die
Gesundheitsreform 2004 gingen die Behandlungszahlen rapide zurück. Während 2003 noch
80.434 Kinderwunschbehandlungen in Deutschland dokumentiert wurden, waren es 2004
nur noch 37.633 (2013: 54.237 künstliche Befruchtungen6).
Dementsprechend nahm auch die Zahl der geborenen Kinder ab. Allgemein wird die
Erfolgsrate pro Zyklus auf 41 Prozent geschätzt, was allerdings nur bei 25- bis 30-Jährigen
erreicht werden kann. Nur etwa jeder dritte Versuch ist erfolgreich. Während 2003 noch
17.111 Kinder7 nach vorangegangenen reproduktionsmedizinischen Behandlungen8 lebend
geboren wurden9, waren es 2004 8.376 Kinder (2013: 8.254 Kinder10).
B. Gesellschaftliche Einflüsse
Betrachtet man die Ursachen für dauerhafte Kinderlosigkeit, wird deutlich, dass der Anteil
körperlicher und gesundheitlicher Aspekte ungewollt kinderlos zu sein, eher gering und
häufig temporär ist. Dennoch ist jede fünfte Frau in ihrer reproduktiven Phase mindestens
einmal von Infertilität betroffen11.
Umfassender besehen wird deutlich, dass endgültige Kinderlosigkeit – außer bei Frauen, die
keinen Kinderwunsch verspüren und sich früh in ihrer Biografie gegen Kinder entscheiden –
auf vielen Ursachen beruht, die von Fall zu Fall höchst unterschiedlich sind und sich im
Verlauf des Lebens aufgrund komplexer Prozesse manifestieren.
Einige Gemeinsamkeiten sind dennoch festzustellen:
später Auszug aus dem Elternhaus und Gründung eines eigenen Haushalts, längere
Singlezeit, späte Partnerschaften bzw. Heirat;
Probleme mit der Vereinbarkeit von Ausbildung, Beruf und Familie;
nach der Statistik scheinen ein hoher Bildungsabschluss, ausgeprägte Erwerbstätigkeit
und Karriereoptionen ein besonderes Hindernis zu sein;
ein mit Unsicherheiten schwieriger Berufsstart und unsichere Beschäftigungsverhältnisse
blockieren den Aufbau einer finanziellen sicheren Basis;
normative Einstellungen und kulturelle Normen (Distanzierung von traditionellen
Normen, Angst vor Retraditionalisierung, geringere Religiosität);
ein hoher Anspruch an eine gelingende Betreuung und Erziehung mit der Einschätzung,
diesem Anspruch nicht gerecht werden zu können, gesellschaftliche Erwartungen und
Rollenverständnis;
wiederholter Aufschub der Familiengründung, Nichtvorhandensein einer festen
Partnerschaft, Trennungserfahrungen oder Diskrepanzen in den Kinderwünschen beider
Partner (die Bereitschaft von Männern, Verantwortung für Familie zu übernehmen, sinkt
und verlagert sich ins höhere Alter oder fehlt ganz);
6 Modifizierter Nachdruck aus J Reproduktionsmed Endokrinol 2014; 11(5-6) , Jahrbuch 2013 Deutsches IVF Register
7 Siehe Fußnote 6
8 In Vitro Fertilisation (IVF)und Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI)
9 insgesamt 706.721 Geburten, Anteil Kinder nach reproduktionsmedizinischen Behandlungen: 2,42 Prozent, Statistisches
Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Zusammenfassende Übersichten Eheschließungen, Geborene und
Gestorbene, 1946-2014, Wiesbaden 2015, eigene Berechnungen
10 insgesamt 682.069 Geburten, Anteil Kinder nach reproduktionsmedizinischen Behandlungen: 1,21 Prozent, ebenda,
eigene Berechnungen
11 Dorbritz, Jürgen; Panova, Ralina; Passet-Wittig, Jasmin: Gewollt oder ungewollt? Der Forschungsstand zu Kinderlosigkeit.
BiB Working Paper 2/2015, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2015
die Suggestion des beliebigen Festlegens des Zeitpunkts der Mutterschaft durch Social
Freezing, d. h. die Möglichkeit, eigene Eizellen zu einem frühen Zeitpunkt einzufrieren,
um bei einem Kinderwunsch in späteren Jahren medizinisch gerüstet zu sein;
Nichtvorhandensein eines unterstützenden, sozialen Netzwerks;
ein auf Unabhängigkeit und Flexibilität ausgerichteter, erwachsenenzentrierter oder
partnerorientierter Lebensstil.
C. Gesundheitliche Aspekte und Probleme
1. Auch medizinische Gründe sind für die Kinderlosigkeit von Frauen und Männern
verantwortlich: Dazu zählen gesundheitliche Probleme und Behinderungen, Infektions- und
Geschlechtskrankheiten, ein zu niedriges oder zu hohes Gewicht, Stress und
Schönheitsideale.
Mit dazu bei trägt auch die Unkenntnis über die eigene Fruchtbarkeit. Etwa ab einem Alter
von 30 Jahren, spätestens ab 35 Jahren geht die Fruchtbarkeit deutlich zurück, so dass der
Realisierung von Kinderwünschen spätestens ab Mitte 30 biologische Grenzen gesetzt sind.
54 Prozent glauben allerdings, dass die Fruchtbarkeit erst ab 40 sinkt.
So liegt bei jüngeren Frauen der Zeitraum, ab dem eine Kinderwunschbehandlung in
Anspruch genommen werden sollte, bei einem Jahr des Nicht-Schwangerwerdens, bei
35-Jährigen bereits bei sechs Monaten.
2. Nehmen Frauen reproduktionsmedizinische Maßnahmen zur Erfüllung ihres
Kinderwunsches zu Hilfe, sind sie mit gewissen gesundheitlichen Auswirkungen12 und
körperlichen Belastungen konfrontiert, die heute größtenteils auserforscht sind, deren
Risiken und Nebenwirkungen den Betroffenen aber häufig nur unzureichend bekannt sind
bzw. bagatellisiert werden oder umgekehrt zu hoch erscheinen:
am Risikoreichsten ist das ovarielle Hyperstimulationssyndrom (OHSS13); es kann bei
ansonsten gesunden Frauen einen lebensbedrohlichen Zustand herbeiführen;
hohe Raten an Mehrlingsschwangerschaften und -geburten;
Auftreten von Blutungen und Infektionen als Folge der invasiven Eingriffe während der
reproduktionsmedizinischen Behandlungen;
Spontanaborte, Tod- und Frühgeburten;
Placenta praevia und vorzeitige Placentalösungen;
Bluthochdruckerkrankungen durch Hormongaben;
ein möglicherweise erhöhtes Krebsrisiko;
psychosoziale Schwierigkeiten und psychische Probleme.
12 Deutscher Bundestag, Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vom 12.11.2010,
BT-Drucksache 17/3759
13 Dabei sind die Eierstöcke vergrößert, es kommt zu einer Überproduktion ovarieller Hormone und anderer ovarieller
gefäßaktiver Substanzen, die eine übermäßige Durchlässigkeit der Blutgefäßwände bewirken. Dadurch treten Flüssigkeit und
Eiweiß aus den Blutgefäßen in Bauchraum und Gewebe ein und führen dort zu Wasseransammlungen, ggf. auch in der
Lunge. In der Folge wird das Blut dickflüssiger, mit der Gefahr der Entstehung von Blutgerinnseln bis hin zu einer
Lungenembolie. Die schlechtere Durchblutung der Nieren kann bis hin zum Nierenversagen führen.
4
3. Daneben dürfen auch die Risiken für Kinder aufgrund von Fehlbildungen nicht
vernachlässigt werden. Die Fehlbildungsquote liegt hier leicht über der allgemeinen Quote.
4. Nicht vergessen werden darf, dass auch dauerhafte Kinderlosigkeit zu medizinischen
Problemen führen kann. Wenn es den ungewollt kinderlosen Menschen nicht gelingt, ihr
Schicksal zu akzeptieren und alternative Lebenskonzepte zu entwickeln, können depressive
Verstimmungen, psycho-somatische Störungen und andere Erkrankungen die Folge sein.
D. Forderungen
Der Bayerische Landesfrauenrat ist der Ansicht, dass es aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive heraus einer Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen von Staat, Politik und Ärzteschaft bedarf, damit Frauen nicht ungewollt kinderlos sind, lebenslang
bleiben und ihren Kinderwunsch nicht erfüllen können.
Es muss ein stärkeres Bewusstsein für Geschlechterrollen und deren Zuschreibungen
geschaffen werden, auch die Männer müssen stärker in den Blick genommen und
angesprochen werden: Ungewollte Kinderlosigkeit ist kein ausschließliches Frauenthema!
Der Bayerische Landesfrauenrat fordert daher von den zuständigen Ministerien und den
Ärztekammern auf Bundes- und Landesebene, den Gesundheitsämtern, den Krankenkassen
und allen Verantwortlichen:
1. Frauen (und Männer) müssen deutlich besser über das begrenzte Fenster der eigenen
Fruchtbarkeit aufgeklärt werden. Mit der Aufklärung über die Abnahme und Grenzen der
Fruchtbarkeit und die beschränkten Möglichkeiten künstlicher Befruchtung muss schon
in der Schule, im Sexualkundeunterricht, begonnen werden.
2. In der Medizin muss stärker als bisher darauf geachtet werden, dass präventive und
kurative Maßnahmen die Gebärmöglichkeiten erhalten, z. B. durch kostenlose HPVImpfungen zur Vermeidung der Folgewirkungen von Konisationen sowie von
Eierstockverlusten durch unter Umständen unnötige Operationen. Insbesondere sollten
Frauen auf die Möglichkeit der Einholung von Zweitmeinungen hingewiesen werden.
3. Das Wissen über reproduktionsmedizinische Möglichkeiten und Maßnahmen muss
flächendeckend publik gemacht werden, ebenso wie deren Erfolgschancen und -risiken.
4. Ärzte und Fachärzte für Gynäkologie müssen ihre Patientinnen mit Kinderwunsch
deutlich schneller an Diagnose- oder Kinderwunschzentren verweisen, um eine
rechtzeitige Behandlung zu ermöglichen.
5. Es muss sichergestellt werden, dass während und nach einer Kinderwunschbehandlung
psychosoziale Beratung kostenlos und niedrigschwellig zur Verfügung steht
und genutzt werden kann. Insbesondere sollen entsprechende Beratungsstellen bei
Kinderwunschzentren integriert werden.
6. Kinderwunschbehandlungen dürfen nicht an den finanziellen Rahmenbedingungen
scheitern. Daher sollte § 27 a SGB V, trotz der ablehnenden Entscheidung im Januar im
Gesundheitsausschuss des Bundestages14, insbesondere hinsichtlich der Anknüpfung
an eine Ehe und ein bestimmtes Alter auf den Prüfstand gestellt werden.
14 Deutscher Bundestag Drucksache 18/3279; Aktuelle Meldungen, Diskussion um künstliche Befruchtung
Gesundheit/Ausschuss - 27.01.2016
7. Der Freistaat Bayern soll ähnlich wie der Freistaat Thüringen ein eigenes
Landesprogramm zur Finanzierung von Kinderwunschbehandlungen auflegen und sich
finanziell am Bundesprogramm entsprechend der Bundesförderrichtlinie zur
"Unterstützung von Maßnahmen der assistierten Reproduktion“, das auch unverheiratete
Paare unterstützt15, beteiligen.
8. Auch wegen des Interesses privater Versicherungen für Leistungsausschlüsse muss
gewährleistet werden, dass der Datenschutz für Mutter und Kind in allen Stadien von
künstlicher Befruchtung gewahrt wird.
9. Die Anpreisung von Social Freezing als Fruchtbarkeitsversicherung muss gestoppt und
die Frauen müssen über die Konsequenzen aufgeklärt werden.
10. Die Rahmenbedingungen für Elternschaft müssen verbessert werden, insbesondere
müssen ausreichend Kinderbetreuungseinrichtungen und Freistellungsmöglichkeiten
angeboten werden.
München, 10. Juli 2016
Hildegund Rüger
Präsidentin
15 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Pressemitteilung vom 07.01.2016
